Integration leben, nicht nur predigen

Das IT-Startup Auticon beschäftigt ausschließlich Autisten mit Asperger Syndrom als IT-Consultants. Gründer Dirk Müller-Remus erläutert, was seine Angestellten besonders macht, wo es Probleme gibt und was in der Arbeit mit Autisten berücksichtigt werden muss. 

Das Interview führte Jens-Ekkehard Bernerth

Herr Müller-Remus, Unternehmer sollen soziales Engagement zeigen. Sie haben dieses Engagement zu Ihrem Geschäftsmodell gemacht. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Ich habe vier Kinder, bei einem ist im Alter von 14 Jahren Asperger Syndrom diagnostiziert worden. Bei einer Veranstaltung einer Selbsthilfegruppe war das Thema “Autismus und Arbeit”, das war das Schlüsselerlebnis für mich.

Beschreiben Sie die Zusammenarbeit ein bssichen?
Bei Autisten läuft alles ein bißchen anders. Wenn wir etwas zu 30 Prozent können, verkaufen wir das im Vorstellungsgespräch als 80 Prozent. Bei Autisten ist das genau umgekehrt. Das ist natürlich nicht das, was ein Personalchef hören will. Ich fand es ungerecht, dass eine so wertvolle Gruppe keine Chance hat.

Also haben Sie mit Ihren Geschäftspartnern Auticon gegründet?
Wir hatten natürlich eine längere Vorlaufzeit. Insgesamt haben die Vorarbeiten zwei Jahre gedauert, bis ich davon überzeugt war, dass es als Geschäftsmodell funktionieren kann.

Warum stellen Sie nur Menschen mit der Diagnose Asperger Syndrom ein?
Die frühkindlichen Autisten, also die andere große Gruppe von Autisten, sind viel stärker betroffen. Sie sind zurückgezogener und haben oft asoziierte Krankheiten wie körperliche oder geistige Behinderungen. Asperger Autisten sind normalintelligent bis hochbegabt, und die Einschränkungen sind nicht so dramatisch wie bei den frühkindlichen Autisten.

Wie kann man sich den Ablauf eines Vorstellungsgesprächs vorstellen?
Bei uns läuft ein Vorstellungsgespräch anders als ein normales Bewerbungsgespräch. Eben weil wir wissen, dass sich die Leute schlecht verkaufen. Das Besondere an Asperger Autisten ist, dass sie in der Regel ein bis zwei Spezialinteressen haben. Das kann man wie eine Art Hobby bezeichnen, nur dass es bei ihnen mehr als ein Hobby ist, eher eine Leidenschaft, eine Obsession. Auticon bietet einen IT-Qualitätssicherungsservice an, weshalb es optimal wäre, wenn diese Leidenschaft im IT-Bereich liegen würde: Wenn Asperger Autisten IT als Spezialinteresse haben, kann man davon ausgehen, dass sie programmieren können, sich mit unterschiedlichen Betriebssystemen auskennen, mit Datenbanken etc. Darüber hinaus wollen wir wissen, wie die Leute ticken: Wie sind sie in der Kommunikation? Können sie im Team arbeiten? Wie stressstabil sind sie? Sind sie pünktlich? Gewissenhaft? Zuverlässig?

Wie prüfen Sie das?
Im Bewerbungsgespräch gewinnen wir einen ersten Eindruck und erleben auch einige Überraschungen.Wir hatten schon mal Bewerber, die auf die Frage nach den Stärken und Fähigkeiten höchstens mit “hm, weiß ich nicht” antworteten. Doch lohnt es sich, nachzubohren. Bei einem dieser Kandidaten kam heraus, dass er gerne liest. Die Frage, was er gerne lese, beantwortete er mit: “Bedienungsanleitungen. Ich übersetze die”. Wir wollten natürlich wissen, in was er übersetzt. Er: “Kann ich zwar alles nicht so gut, aber Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Rumänisch.” Am Ende konnte er sieben Sprachen gut.

Wie geht es weiter, wenn es von den Fähigkeiten her passt?
Es folgt eine Kompetenzanalyse. Damit prüfen wir, was die Kandidaten im IT-Bereich können, etwa Programmieren oder Datenbankumgang. Und wir testen die Kandidaten auf etwas ganz Wichtiges. Denn wir haben festgestellt, dass Autisten in einer bestimmten Sache ganz besonders stark sind: In der Mustererkennung. Dafür haben wir ein Testverfahren entwickelt zusammen mit der Freien Universität Berlin. Neben dem IT-Knowhow ist das die wesentliche Fähigkeit, die wir suchen.

Was kann man sich drunter vorstellen?
Die Stärke von Autisten ist es, aus unterschiedlichen Zusammenhängen Muster zu erkennen und Schlussfolgerungen zu ziehen, um dann den Kunden entsprechend zu beraten: “Wenn Ihr das und das verbindet, bekommt Ihr eine neue Erkenntnis, die euch im Geschäft weiterhelfen kann.”

Die sozialen Skills werden dann im Verlauf der Probezeit überprüft?
Das machen wir vorher in der sogenanten Vorbereitungsphase. Da haben die Leute noch keinen Arbeitsvertrag, aber wir sind uns eigentlich ziemlich sicher, dass wir sie nehmen wollen. Dann laden wir sie ein und fassen drei bis sechs Autisten in Gruppen zusammen und lassen sie Aufgaben lösen, die nach unterschiedlichen Kriterien gewichtet sind: Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und so weiter. Anhand dessen können wir gut und objektiv die sozialen Skills wie Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit beurteilen. Ist alles zu unserer Zufriedenheit abgelaufen, gibt es einen Arbeitsvertrag zu normalen Konditionen mit marktüblichen Gehältern. Keine prekären Arbeitsverhältnisse!

Haben Sie Pädagogen im Team als Team, die sich um die Belange von den Mitarbeitern kümmern?
Diese Rolle haben bei uns die sogenannten Jobcoaches. Sie haben zwei wesentliche Aufgaben: Einmal kümmern sie sich um den gesamten Rekrutierungsablauf vom Bewerbungsgespräch hin zur Kompetenzanalyse und Vorbereitungsphase, zum anderen begleiten sie unsere Consultants im Einsatz beim externen Kunden.

Sind das ausgebildete Pädagogen oder Mitarbeiter, die eine spezielle Fortbildung gemacht haben?
Es gab bis auf ein Unternehmen keine größeren Vorbilder in Deutschland für unser Modell. Dementsprechend musste man sich rantasten, weshalb wir eher Pädagogen und Psychiater als Jobcoaches eingestellt haben, die gewohnt waren, mit erwachsenen Autisten zu arbeiten. Ihnen fehlte aber oftmals der Wirtschaftsbezug. Insofern sind Leute ideal, die ein Studium der Wirtschaftspsychologie vorweisen können. Die vereinen beides in ihrer Person, zum einen der soziale Anspruch, andererseits die wirtschaftliche Seite.

Sind die Jobcoaches quasi auch die Integrationshelfer und die Führungskräfte?
Ich würde sie als Hauptansprechpartner für die Autisten bezeichnen, aber auch als Bindeglied zu den Unternehmen. Vielleicht noch ein Wort dazu: Zwar mag das Studium der Wirtschaftspsychologie perfekt sein, aber in erster Linie sollten die Jobcoaches auch Menschen sein, die in sich ruhen und das auch ausstrahlen, die gefestigt sind, und die vor allem – das ist vielleicht das Wichtigste – sich gut ausdrücken können.

Warum?
Autisten haben die Angewohnheit, jedes Wort wortwörtlich zu verstehen. “Es wäre schön, wenn Du bei Gelegenheit dies oder jenes mal erledigen könntest” – das würde ein Autist nie verstehen. Ein Autist braucht einfache, direkte und klare Ansagen: “Erledige diese Aufgabe bitte in der und der Form bis da und da hin. Danke.”

Müssen Vorkehrungen vor Ort getroffen werden?
Naja, es wäre natürlich gut, wenn es einen Rückzucksraum gibt und Einzelzimmer oder kleinere Büros mit drei, vier Leuten. Oft geht das aber nicht aufgrund der spezifischen Begebenheiten. Wir hatten anfangs auch ganz schöne Bedenken mit dem Großraumbüro, aber das ist eigentlich das geringste Dilemma. Da reicht manchmal auch das Verteilen von einem Kopfhörer für die nötige Ruhe.

Wie sieht Ihr Rekrutierungsverfahren aus? Sprich: Woher bekommen Sie Ihre Arbeitskräfte?
Wir sind mittlerweile ein bißchen bekannter geworden in der Szene. Eltern oder Mütter lesen in der Zeitung mal was über uns, wir haben eine Website mit Stellenanzeigen, Facebook, Twitter. Vor allem ein funktionierendes Netzwerk mit Autistenverbänden, die Adressen haben und die Betroffenen fragen können, ob deren Nachwuchs nicht Interesse habe, bei uns zu arbeiten. Es gibt Selbsthilfegruppen, diagnostizierende Stellen wie Psychiater, die Autismus feststellen und uns empfehlen können. Oder über Verbindungsleute an Universitäten, die sich um Studenten mit Handicap kümmern. Da gehen wir auch hin und arbeiten zudem mit dem Hochbegabtenverein Mena zusammen. Wir haben 2013 bei einer Preisverleihung gewonnen und haben die Gelegenheit genutzt, mit vielen von den Anwesenden zu reden. Wir suchen permanent gute Leute, und da ist unser großes Netzwerk durchaus von Vorteil.

Wird Auticon gefördert von Sozialämtern oder dem Staat?
Ja, wir bekommen auf zwei Wegen Unterstützung vom Staat. Wenn ein Unternehmen jemanden anstellt, der langzeitarbeitslos war oder behindert ist, bekommt jede Firma von der Arbeitsagentur einen Eingliederungszuschuss. Das sind beispielsweise Lohnkostenzuschüsse in Höhe von 50 Prozent über ein Jahr oder 30 Prozent über eineinhalb Jahre. Ferner sind wird per Definition ein Integrationsbetrieb, da wir mehr als 25 Prozent Schwerbehinderte bei uns im Unternehmen haben. Das Integrationsamt gleicht aber nur unsere Wettbewerbsnachteile aus.

Inwiefern?
Der Umstand, dass wir die Jobcoaches haben. Die haben andere Unternehmen aus der IT-Consultingbranche nicht. Diese Mehrkosten werden vom Amt zum großen Teil kompensiert. Ansonsten kann man sagen: Von 100 Prozent Einnahmen erwirtschaften wir 85 Prozent durch externen Umsatz, und der Rest kommt aus den zwei Fördertöpfen. Wir sind ja auch keine gemeinnützige GmbH, sondern eine ganz normale – wenn auch mit speziellen Mitarbeitern. Das ist auch unser Selbstverständnis und gleichzeitig unser USP.

 

ZUR PERSON
Dirk Müller-Remus
bringt über zwanzig Jahre Geschäftsführungs- und Vorstandserfahrung mit. Zu Beginn seiner Laufbahn war er in den Bereichen Software-Entwicklung und Kommunikationstechnik tätig, bevor er in den Bereich Medizintechnik wechselte. Er studierte BWL an der Universität Frankfurt am Main. Dirk Müller-Remus lebt in Berlin, ist verheiratet und hat vier Kinder, darunter einen Sohn mit Asperger-Autismus.